Der Hungerwinter kurz nach dem Zweiten Weltkrieg 1946/47: Lebertran statt Bratfett -- PRESSEBERICHT - und mit AUDIO-Beitrag zum "Fringsen" und vielen LINKs

"Hungerwinter 1946/47 - Lebertran statt Bratfett" schreibt Roswitha Oschmann am 16.1.2022 im GA-Bonn/Siebengebirge - den Artikel hat uns Frau Oschmann für unser Virtuelles Brückenhofmuseum zur Verfügung gestellt.

Siebengebirge. Der Hungerwinter vor 75 Jahren ging in die Geschichtsbücher ein. Zeitzeugen aus dem Siebengebirge erinnern sich

Es war der blanke Galgenhumor. Der Volksmund dichtete das Deutschlandlied um: „Deutschland, Deutschland ohne alles. Ohne Butter, ohne Speck. Und das bisschen Marmelade frisst uns die Besatzung weg!“ Vor 75 Jahren war auch das Siebengebirge eine Kältekammer. Und: Dem Hungerwinter 1946/47 folgte ein extrem heißer, trockener Sommer mit einer katastrophalen Missernte. Wer den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, kämpfte an einer neuen Front – gegen den Hunger- und Kältetod.

„Eisblumen blühten an den Fenstern, die zentimeterdicke Eisschicht taute gar nicht mehr ab, soweit die Fenster aus Glas waren und nicht mit Pappe geflickt“, erinnert sich Willi Armbröster, damals 13 Jahre alt. Mit seiner Familie wohnte er im Kinderheim Probsthof. „In der Nacht trugen wir Pullover. Ein angewärmter Ziegelstein wurde ins Bett gelegt.“

Eine Heizung gab es nicht. „Wir sammelten Holz“, berichtet der einstige Bütten-Star. Und: „Wenn die Bremsen des Kohlenzuges am Didierwerk quietschten, rappelten schon die Karren übers Pflaster, alle stürmten los zum Klüttenklau.“ Seitdem der Kölner Kardinal Frings in seiner Silvesterpredigt 1946 das Gewissen der Kohlen-Diebe erleichtert hatte, geschah das Stehlen auch unter einem lieblicheren Begriff - Fringsen.

Armbröster: „Ich habe viel gefroren, aber es war nicht so, dass ich vor Hunger nicht schlafen konnte.“ Die Armbrösters waren Selbstversorger. „Wir aßen oft Steckrüben. Die Saatkartoffeln, die wir im Frühjahr 1947 gesetzt haben, waren dicker als die im Herbst geernteten“, entsinnt sich der Niederdollendorfer. „In einer Abfallgrube unterhalb des Petersberghotels suchten wir nach Konservenresten oder halb vollen Marmeladengläsern.“

Zu Fuß ging er nach Oberpleis, um dort Fleisch zu ergattern. Die Mutter schickte Willi in der Kälte morgens um 5 zu Obst und Gemüse Limbach, wo es für jede Person einen Hering geben sollte. „Um 8 hat sie mich in der Schlange abgelöst, ich musste zur Schule.“ Armbröster denkt mit Freude an die Schulspeisung. „Es gab etwas Warmes ins Henkeltöpfchen.“ Heute lacht er über den Gassenhauer: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei und auf Abschnitt Dezember gibt’s wieder ein Ei.“

Etliche Zentner Kartoffeln lagerten im Keller des Kinderheims. „Durch die Kälte war ein Rohr gebrochen. Mühsam haben wir die aus dem Eis gepiddelten Kartoffeln geschält, die mussten schleunigst verarbeitet werden.“ Auf dem Probsthof wurden auch viele Flüchtlinge versorgt. „Von Schwester Kathrinchen erhielten sie einen Schlafplatz und etwas Warmes zu essen.“

Auch Jörg Brüßler berichtete bei Karl Schumacher in kleiner Runde von über 80-jährigen Mitgliedern des Heimatvereins, dass er als Sechsjähriger mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder 1946 als Flüchtling nach Oberdollendorf gekommen war. „Der Vater war an der Ostfront gefallen. Von der Behörde war uns eine kleine Küche mit Herd und ein unbeheizbares Zimmer zugeteilt worden.“

Das Heizmaterial wurde von Nachbarn beschafft, die kurzerhand einen Baum im Wald fällten. Beide Kinder waren unterernährt, wurden zeitweise im Probsthof aufgepäppelt. „Unsere Mutter war gezwungen, durch den Eintausch von Wertsachen Lebensmittel zu hamstern.“ Unvergesslich, dass Junggesellen der Sebastianus-Bruderschaft ihm, dem evangelischen Jungen, Spielsachen schenkten. Zwei Männer von der Rennenbergstraße hatten das Glück, ein Wildschwein, das zuvor ihre Felder verwüstet hatte, mit einer Drahtschlinge zu fangen. „Wilderei war verboten. Aber mehrere Familien hatten Frischfleisch.“ Karl Schumacher: „Rar war Bratfett. Meine ältere Schwester hatte Lebertran organisiert. Damit wurden Reibekuchen gebacken. Danach waren wir uns alle einig - nie wieder.“

Willi Birenfeld aus Bad Honnef, Jahrgang 1932, erinnert sich an Fahrten in völlig überfüllten Zügen. Der frühere Sibi-Lehrer besuchte Verwandte seines Vaters, um Lebensmittel zu erbitten. Der Vater war in Stalingrad vermisst, die kleine Schwester an Typhus verstorben. Die Mutter half in der Caritas-Durchwanderer-Küche. Dort wurde auch die Sibi-Schulspeisung gekocht.

Willi Birenfeld: „Es gab eine Art Erbswurst und die beliebte Bisquitsuppe.“ Mit der Pfarrjugend zog Birenfeld ein Kasperletheater auf. Der Eintritt: ein Stück Speck, Eier oder Mehl. Lebensmittel und Brikett waren begehrte Währungen. Das schwarze Gold musste mitbringen, wer ins Theater wollte. Berühmte Künstler wie René Deltgen erhielten im Honnefer Kursaal als Gage einen Eimer Marmelade.

Kinder gewannen dem Winter durchaus Schönes ab. Richard Kern: „Ich bin täglich Schlitten oder Ski gefahren.“ Eisbeine holte sich der heute 87-Jährige, wenn er Schlange stand vor Läden, und kalte Finger beim Kohlenklau. Der letzte Drachenfels-Fotograf: „Schlimme Zeiten, für uns Jungs war es aber auch Abenteuer.“ Die Kälte brachte den Pänz auch Spaß. „Wir fuhren mit dem Kasteröllchen auf dem Rhein, der schweren Eisgang hatte“, erzählte Helmut Vreden aus Niederdollendorf. „Hunger haben wir nicht gelitten. Wir hatten Hühner, Kaninchen, Ziegen.“ Die Kinder versorgten die Kaninchen, sammelten Holz, klauten Klütten. „Immer wieder blieben Kohlenzüge auf der Strecke wegen Störungen stehen oder wurden auf einem Wartegleis abgestellt.“

Größte Ängste stand Helmut Vreden aus, als eines Abends der Warnruf „Polizei“ erschallte und er noch allein auf dem Waggon war. „Glücklicherweise entfernte sich der Polizist allmählich. Bei meiner nächsten Beichte erhielt ich für den Diebstahl der kleinen Menge die Absolution.“

Helmut Vredens Bruder Lothar (80) wurde Leiter der Longenburgschule und durchforstete deren Archiv. Anfang Dezember 1946 unterrichtete der damalige Rektor der Volksschule Niederdollendorf das Schulamt über die „Gegenwartslage unserer Schulkinder“: Die Jugend leide. „Viele Kinder kommen nüchtern zur Schule, fast alle ohne 10-Uhr-Brot.“ Oder: „Im November fehlten 33 von 132 Kindern wegen Schuhmangels.“ Der Gesundheitszustand der Kinder sei bei 94 Prozent schlecht. Und: „An moralischen Schäden sind einige Obstdiebstähle im Herbst zu nennen.“ Die Vokabel „Fringsen“ wurde erst einige Wochen später erfunden.


Über LINK 1 ganz unten finden Sie den Artikel beim GA-Bonn..


Foto (GA -- Stadtarchiv): Auch im Hungerwinter 1946 herrschte schwerer Eisgang auf dem Rhein. Die Aufnahme mit dem Blick auf das Siebengebirge stammt aus dem Jahr 1929.

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Weitere interessante LINKs - Zeitdokumente zu dem Pressebericht:

Bezugsmarken und Lebensmittelmarken
https://virtuellesbrueckenhofmuseum.de/vmuseum/historie/zeige_objekt.php?auswahl=973&suche=&reihe=-16155-1610

"Dokumente der Katholischen Volksschule Niederdollendorf aus den Jahren 1945 - 1950" - beispielhaft für alle Schulen im Rheinland
https://virtuellesbrueckenhofmuseum.de/vmuseum/historie/zeige_objekt.php?auswahl=1452&suche=&reihe=-1454-1452-1453  

Fringsen - mit AUDIO-Beitrag:
https://virtuellesbrueckenhofmuseum.de/vmuseum/historie/zeige_objekt.php?auswahl=5885&suche=Fringsen&reihe=-16155-16101-3444-5885

Dazu auch der Beitrag im RHEINKIESEL: "Fringsen" - Kein Kavaliersdelikt
https://virtuellesbrueckenhofmuseum.de/vmuseum/historie/zeige_objekt.php?auswahl=16101&suche=&reihe=-16155

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unsere Dokumentation zum Eisgang auf dem Rhein
https://virtuellesbrueckenhofmuseum.de/vmuseum/historie/abfrage_sql.php?rolle=ja&schublade=Eisgang%20auf%20dem%20Rhein

 

Bild von 2022
Quelle: General-Anzeiger Bonn - Stadtarchiv Königswinter - und diverse wie zitiert
Marker GA-Bericht: Hungerwinter 1946/47 -- Lebertran statt Bratfett - Marker WDR 1: 30. Dezember 1947 - Kälte- und Hungerwinter in Deutschland - Marker Deutschlandfunk: Der Hungerwinter 1946/47Nachkriegsdeutschland im täglichen Überlebenskampf

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