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*„Pimocke"oder "Rucksackträger"- abfällige Bezeichnung der Rheinländer für die Vertriebenen aus dem Osten („aus Posemuckel") in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
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Erinnerungen eines „Pimocks" * an die ersten Nachkriegsjahre in Oberdollendorf.
1. September 1945, ein freundlicher, warmer Nachmittag. Mit meinem Kameraden Rainer, einem gebürtigen Sudetenländer, stiefelte ich von der Kommende Ramersdorf nach Oberdol lendorf. Vor drei Tagen war unsere Gefangenenkompanie in Begleitung einer britischen Pionierkompanie auf dem Bonner Hauptbahnhof aus einem Kriegsgefangenenlager bei Brüssel angekommen. Unser Ziel kannten wir einfachen Soldaten nicht, wir hatten nur gehört, daß wir in Westdeutschland zum Wiederaufbau der gesprengten Rheinbrücken eingesetzt werden sollten. Der erste Eindruck kurz nach der Grenzüberschreitung in Aachen war erschütternd: Trümmer, soweit das Auge reichte. Auf dem Gegengleis fuhr ein britischer Militärzug ein, die Soldaten stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten. Als sie uns erblickten, wir waren in britische Uniformen gekleidet, trugen aber keine Kopfbedeckungen und hatten auf dem rechten Knie einen hellgelben rautenförmigen Flicken und auf dem Rücken einen ebensolchen kreisförmigen, beides groß und weithin leuchtend - begannen sie zu singen: „Wir trocknen unsre Wäsche auf der Siegfriedline(lain)". Das gab uns den Rest. Danach folgte die gespenstische Kulisse des Hürtgenwaldes, der nach den schweren Kämpfen im Winter 1944/45 aussah wie eine Mondlandschaft, Düren, Köln, Bonn, nur Trümmer. In Bonn mußten wir auf Lastwagen umsteigen, nach etwa einer halben Stunde kamen wir an den Rhein, und uns bot sich eine überwältigende Aussicht: eine Landschaft wie von einer Ansichtskarte, Berge, Wald, in der Ferne eine Burgruine, ein Schloß mit einer Unmenge Türmchen, auf einem Berggipfel ein Hotel und davor einige Dörfer, wie es schien, ohne Trümmer. Ich glaubte, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
Die Lastwagen überquerten den Rhein auf einer Pontonbrücke, wandten sich nach Norden, bald hielten wir wieder vor einem Schloß mit unzähligen Türmchen, das nur einen kleinen Schönheitsfehler hatte: Es fehlten sämtliche Türen und Fenster. Hier sollten wir uns also einrichten, hieß es, das sei unser vorläufiges Zuhause. Es war die Kommende in Ramersdorf. Noch am selben Nachmittag marschierten wir, jeder einen Strohsack unter dem Arm, ins Hinterland zu einem großen Bauernhof, es muß der Hof Wolfgarten in Oberholtorf oder Gut Ettenhausen gewesen sein, füllten ihn mit Stroh und trugen ihn wieder zur Kommende. Nun hatten wir wenigstens eine Unterlage, eine paarbritische Militärdecken gab es auch, und so machten wir es uns so bequem, wie es ging. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand einer der Kameraden im Türrahmen, kaute an einem dicken Apfel und hatte auch noch einige in der Hosentasche. „Woher hast du die denn?" fragte ich naiv und erhielt die Antwort: „Aus meinen Jarten." (Es war ein Berliner). „Und wo ist dein Jarten?" fragte ich noch dümmer. Er machte eine weitausholende Armbewegung: „Hier überall." Ich hatte während meiner zweimonatigen Militärzeit, in der ich Gott sei Dank keinen einzigen Schuß abzufeuern brauchte (dafür aber einen in die Schulter bekam, der mir noch jahrelang Ärger verursachte), noch nicht vergessen, daß man sich an fremdem Eigentum nicht vergreifen dürfe, nicht einmal an Falläpfeln auf einer Wiese, und das war hart, die Verpflegung war knapp bemessen: dürftige Brotrationen, zu Mittag Kartoffeln mit Sauerkraut. Viele meiner Kameraden gingen einfach „fechten", d.h. sie fragten in den Häusern von Ramersdorf bis Königswinter, ob sie nicht etwas zu essen haben konnten. Aber das ging mir entschieden gegen den Strich, schließlich wohnten hier keine Bauern, denen, wie man in den ersten Nachkriegsjahren zu sagen pflegte, nur der Teppich im Kuhstall fehlte. Durch die Gegend streunen, ja, aber immer hübsch auf Distanz, das war meine Art! Aber hier war alles anders: Ab und zu sah man sogar ein Mädchen mit einem britischen Soldaten, unvorstellbar! (Vielleicht war es ja nur ein Kriegsgefangener, der seine „Erkennugsmerkmale" beseitigt und seine Uniform mit khakifarbenem Stoff geflickt hatte. Auf diese Idee kamen wir später alle, so daß der Kompanieschneider alle Hände voll zu tun bekam. Aber er arbeitete nur gegen die gängige Währung, britische Zigaretten, die man uns merkwürdigerweise im ersten Nachkriegsjahr noch als Verpflegungsration zuerkannte). Meine Kameraden hatten für diese Mädchen natürlich die „schmeichelhaftesten" Bezeichnungen, zu Unrecht, wie ich heute meine. Hatten sie es eigentlich früher anders gemacht im besetzten Ausland? Und die britischen Soldaten waren nette, freundliche Burschen. In einer Diskussion, die einige Kameraden anläßlich eines solchen Anblicks mit Passanten auf der Straße begonnen hatten, sagte eine Frau: „Meine Herren, Sie sind im Rheinland! Hier haben die Leute nicht so viele Vorurteile!" Daß das nicht ganz stimmte, davon konnte ich mich später auch überzeugen, aber es war sicher leichter, Anschluß zu finden als anderswo, wenn nur meine Verklemmtheit nicht gewesen wäre!
Zur Erklärung: Ich bin Rußlanddeutscher, meine Wiege stand in Sibirien, in Landau am Schwarzen Meer bin ich aufgewachsen, dort habe ich im August 1941 die ersten „Reichsdeutschen" (Soldaten) gesehen. Als die deutschen Truppen sich aus der Ukraine zurückziehen mußten, wurden die „Volksdeutschen" evakuiert, so kam ich nach Deutschland und wurde im Februar 1945 zur Wehrmacht eingezogen. Im Gegensatz zu den heutigen Aussiedlern sprachen wir damals noch alle deutsch und hatten deutschsprachige Schulen besucht, für meine Kameraden aber war ich ein „Beutedeutscher" und hatte entsprechende Hemmungen, weil ich gerne „gleichwertig" sein wollte. Ich habe diese Hemmungen lange mit mir herumgetragen, bis ich dahintergekommen bin, daß überall nur mit Wasser gekocht wird.
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