Nach dem mißglückten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurden auch die nicht reinjüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen verfolgt. So mußte auch meine Mutter, Martha Steeg geb. Levy, die bei ihrer Hochzeit im Jahre 1926, also schon sieben Jahre vor der sogenannten Machtübernahme, zum katholischen Glauben konvertierte, unter der Naziherrschaft leiden. Auch ich litt als sogenannter Halbjude unter der Diktatur. Dies, obwohl ich nach der Geburt sofort getauft und katholisch erzogen wurde.
Am 11. September 1944, knapp zwei Monate nach dem Attentat, wurden meine Mutter und ich von der Gestapo verhaftet und über Siegburg in ein Barackenlager nach Köln-Müngersdorf, wo heute das Stadion ist, transportiert. Warum ich das erwähne, obwohl das alles mit dem Kriegsende weniger zu tun hat: Am Vorabend dieses Verhaftungstages, am 10. September, kam zu uns der damalige Ortspolizist Hubertus Müller und warnte uns vor der Verhaftung. Wir sollten flüchten. Aber das taten wir dann doch nicht. Als meine Mutter mit mir aus dem Versteck an der Longenburg Mitte März 1945 nach Hause zurückkehrte, saß der besagte Polizist in unserem Keller und wartete auf den Tod. Andere Dollendorfer hatten ihn als Nazibonzen angeschwärzt. In unserem Hause hatte sich die amerikanische Kommandantur einquartiert. Der Kommandant Major William Staats wußte bereits von unseren Verfolgungen im Dritten Reich. Er ließ sofort das Haus räumen. Als meine Mutter ihm sagte, daß sie von Polizeimeister Müller vor der Verhaftung gewarnt worden sei, wußte sie nicht, daß Hubertus Müller im Keller des Hauses saß und erschossen werden sollte. So rettete sie ihm das Leben. Nach 14 Tagen Aufenthalt in Köln-Müngersdorf wurde ich wieder nach Hause entlassen, weil ich damals noch keine 16 Jahre alt war.
Meine Mutter wurde Ende September 1944 mit anderen Häftlingen per Lastwagen nach Kassel verfrachtet, wo sie in den dortigen Henschelwerken arbeiten mußte. Ich war dann zu Hause mit meiner Großmutter väterlicherseits. Auf Befehl des damaligen Gauleiters Grohe mußte auch mein Vater den Gau Köln-Aachen verlassen. Er hätte bleiben können und auch seine Stelle bei den Didier-Werken in Niederdollendorf behalten, wenn er sich hätte scheiden lassen. Dies war ihm nahegelegt worden. Aber aus Liebe zu seiner Frau tat er diesen Schritt nicht. Mein Vater, Friedrich Steeg, fand durch Freunde eine Arbeit in der Nähe seiner Frau in Großalmerode.
Zur Jahreswende 1944/45 wollte ich meine Mutter in Mitteldeutschland besuchen. Aber daraus wurde nichts, weil die Gleisanlagen der Bahn weitgehend zerstört waren und fast keine Züge mehr fuhren. Per Anhalter kam ich auch nicht weit. So kehrte ich wieder um. Und das war auch gut so, denn im Januar 1945 bekam ich Scharlach und mußte sechs Wochen das Krankenzimmer zu Hause hüten.
Aus dem Fenster konnte ich die sogenannten Feindflugzeuge beobachten und sah, wie die Bomben auf Königswinter und andere Orte fielen.
Inzwischen hatte mein Vater meine Mutter aus dem Arbeitslager in Hessisch-Lichtenau bei Kassel herausgeschmuggelt und auf abenteuerlichen Wegen zur Longenburg gebracht. Unterwegs und auch in ihrem Versteck bei ihrer Freundin Wilma Groyen war sie verkleidet. Denn keiner durfte sie erkennen, sonst wäre sie vielleicht noch fünf Minuten vor 12 verraten worden. An der Longenburg verbrachten wir, meine Mutter und ich, die letzten Kriegstage. Nach meiner Genesung bin ich nämlich zu meiner Mutter in das Versteck gegangen.
Zu guter Letzt wäre meiner Mutter beinahe doch noch etwas zugestoßen. Ein Artilleriegeschoß, ob amerikanischer oder deutscher Herkunft, weiß ich nicht, landete im Kamin des Hauses, der zerbarst. Gerade wollte meine Mutter für uns beide Essen bereiten. Sie kam mit dem Schrecken davon, und die Erbsensuppe spritzte an die Decke und die KeIlerwände.
18 Tage hielten wir es in dem Versteck aus. Dann kamen die Befreier, und wir konnten einige Tage später von der Longenburg zu Fuß wieder nach Hause gehen. Unterwegs wurden wir von der Mehrheit der Ortsbevölkerung von Oberdollendorf mit Jubel begrüßt. Als erster richtete Uhrmachermeister Hermann Ott herzliche Willkommensworte an uns. Zu Hause angekommen, war unser Haus - wie bereits erwähnt - vom amerikanischen Kommandanten beschlagnahmt. Meine Oma und die Verwandten, die wir als Flüchtlinge aufgenommen hatten, waren im Nebenhaus bei Familie Ottersbach aufgenommen worden. Alle konnten wir unser Haus wieder in Benutzung nehmen. Nach siebenmonatiger Abwesenheit von zu Hause konnten meine Mutter und wir alle uns wieder glücklich in die Arme nehmen.
Als wir von der Longenburg zu Hause ankamen, befand sich der von den Amerikanern ernannte Bürgermeister Leo Tendler in unserem Hause und verhandelte mit den Befreiern über die Zukunft von Oberdollendorf, welches weitgehend von den Kriegsereignissen verschont geblieben war.
Am 18. April des Jahres 1945 setzte sich mein Vater, der nach der Flucht mit meiner Mutter nach Mitteldeutschland zurückgekehrt war, aufs Fahrrad, als auch dort die Besatzungsmacht eingetroffen war. Vater hatte sich bei Freunden ein Fahrrad ausgeliehen und traf nach drei Tagen, am 20. April 1945 ("Führers Geburtstag"), wieder in der Heimat ein. So waren wir wieder glücklich vereint und für uns war der Krieg, 18 Tage vor dem eigentlichen Ende, vorbei
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