Erinnerungen an meine Kindheit in Niederdollendorf (1933 – 1948) 4., durchgesehene und ergänzte Auflage Bonn 2005
Wir zitieren hier einige Auszüge aus dem Buch von Helmut Vreden ab Seite 72 mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Das Buch ist erhältlich im Brückenhofmuseum
Der Stollenbau am Schleifenweg
Als die westalliierten Truppen im Herbst 1944 den Westwall und damit deutsches Gebiet erreichen, ist uns klar, daß wir bald nicht nur mit dem Luftkrieg, sondern auch mit dem Bodenkrieg zu tun haben werden. Unser Vater befürchtet, daß die fremden Truppen bei ihrem Vormarsch am Rhein zum Stehen kommen und dann die Städte und Dörfer auf der rechten Rheinseite durch Bomben und Artillerie in Schutt und Asche legen. Um dem zu entgehen, entschließt er sich, zusammen mit den Familien Sens und Budnik vom Schleifenweg aus, der zum Petersberg hinaufführt, einen Stollen in südwestlicher Richtung in den Kellerberg zu treiben. Dort sollen die Familien dann im Ernstfall überleben.
Ohm Johann (Sens) und unser Vater erreichen, daß zwei italienische Kriegsgefangene, die dem Didier-Werk zugeteilt sind, für die schwierige Arbeit abgestellt werden. Sie heißen Janni und Primo, und mit ihnen verbindet uns bald ein herzliches Verhältnis. Sie arbeiten gerne bei uns, weil sie damit der harten Arbeit und Beaufsichtigung in der Fabrik entgehen und zudem besser verpflegt werden.
10 m oberhalb der Bank war der Stolleneingang, der rechts in den Berghang führte; links davon ist nach 60 Jahren noch die Abraumhalde zu erkennen; ganz links das Bett des Schleifenbachs.
Onkel Jakob (Vreden), Bauunternehmer in Königswinter, stellt eine Baubude zur Verfügung, die vor der Baustelle aufgestellt wird. Die beiden Italiener, Egon und Herr Budnik fangen nun an, sich etwa 25 m oberhalb der Stelle, an der der Schleifenweg links abbiegt, in den Berg hineinzuarbeiten. Täglich kommt der Sprengmeister und lockert mit genau dosierten Dynamitladungen das Gestein, das anschließend mit Schubkarren aus dem Stollen hinausgeschafft und draußen aufgeschüttet wird. Im Berg macht der Stollen einen Schwenk nach links und stößt dort auf einen anderen Stollen, den die Familien Limbach aus Oberdollendorf und Felder aus Niederdollendorf einige Meter weiter oberhalb angelegt haben. Durch diese Verbindung hat jeder der beiden Stollen einen Notausgang. Außerdem wird eine bessere Belüftung erzielt. Im hinteren Teil des Stollens sind Sitzbänke und einige Liegen angebracht. Anfang 1945 wird der Stollen fertig.
Als weitere Vorbereitung auf den Ernstfall bäckt unser Vater eine riesige Menge Zwieback, der in einem speziell dafür hergestellten großen Holzkoffer verstaut wird. ...
Am 7. März ist es dann soweit. Während ich mit einigen Spielkameraden gerade dabei bin, weggeworfenes Militärgerät aus dem Rhein zu fischen, explodieren plötzlich über dem Rhein Schrapnellgranaten, die in der Luft explodieren und einen Splitterregen nach unten senden. Es dauert nur kurze Zeit, bis ich den Ernst der Lage erkenne. Dann renne ich nach Hause. Dort hat unser Vater schon den Handwagen mit einigen Koffern bepackt. Bei Einbruch der Dunkelheit wird Klein-Lothar auf den Wagen gesetzt und dann geht es über die Petersbergstraße zum Schleifenweg in unseren Stollen. Unterwegs sehe ich am Rande der Petersbergstraße frisch ausgehobene Schützenlöcher, in denen sich Soldaten aufhalten.
Im Stollen am Schleifenweg
Als wir am nächsten Tag im Stollen aufwachen, haben die amerikanischen Truppen bereits Bad Godesberg eingenommen. Seitdem liegen die Städte und Dörfer auf der rechten Rheinseite unter einem ständigen Störfeuer der amerikanischen Artillerie, das lediglich morgens durch eine Feuerpause unterbrochen wird. Außerdem fliegt tagsüber fast ununterbrochen ein einmotoriges Flugzeug als amerikanischer Artilleriebeobachter den Rhein entlang. Sobald sich auf der rechten Rheinseite etwas Größeres bewegt, setzt gezieltes Feuer ein. Glücklicherweise ist der Schleifenweg von der anderen Rheinseite her nicht einzusehen. Trotzdem müssen wir uns vor dem Störfeuer in acht nehmen.
Die Morgentoilette erledigen wir während der üblichen Feuerpause am Schleifenbach. Frisches Wasser holen wir aus einer kleinen Quelle, die 50 m oberhalb liegt. Gekocht wird auf einem Kanonenofen, der in der Baubude vor dem Stollen steht.
Bezüglich der Verpflegung wartet unser Stollennachbar Peter Limbach mit einer erfreulichen Überraschung auf. Er ist Kellermeister der Firma Peter Mülhens auf dem Wintermühlenhof in Königswinter und hat dort vor einem Jahre bereits sein silbernes Dienstjubiläum gefeiert. Jetzt ist er durch den Wald dorthin gegangen und mit einer Schweinehälfte zurückgekehrt. Wir bekommen auch etwas ab.
Wegen des Störfeuers müssen wir die meiste Zeit im Stollen verbringen. Die Luft dort ist sehr feucht und kalt. Eine Heizquelle gibt es nicht. Ab und zu fällt ein Stein von der Decke. Tante Trina (Katharina Sens) wird krank und muß nach Hause geschafft werden, wo sie am 17. März im Alter von 64 Jahren verstirbt.
Bruder Egon, der als Wache in unserem Haus zurückgeblieben ist, kommt fast täglich während der morgendlichen Feuerpause vorbei und versorgt uns mit frischem Brot und den neuesten Nachrichten. Große Erleichterung kommt auf, als wir hören, daß den Amerikanern die Rheinbrücke bei Remagen (Ludendorff-Brücke) mehr oder weniger unversehrt in die Hände gefallen ist und sie sich auf dem rechten Rheinufer festgesetzt haben. Vater meint dazu, nun würden sie bald auch bei uns sein. In den folgenden Tagen sehe ich wiederholt einzelne deutsche Flugzeuge, die in Richtung der Brücke fliegen und versuchen, sie mit Bomben zu treffen.
Eines Abends hören wir starken Motorenlärm. Schnell klettern wir auf die Anhöhe über dem Stollen und schauen ins Tal. Dort sehen wir in der Dämmerung 4 deutsche Panzer über die Bergstraße in Richtung Süden rollen. Vater sagt spöttisch, es handele sich um die deutsche Gegenoffensive.
Eines Morgens kommen zwei Männer aus Niederdollendorf mit Rucksäcken den Schleifenweg herauf. Es sind Gerhard Limbach und Jodokus Gail, beide wohnhaft in der Rheinstraße. Erstaunt erkundigen sich unsere Eltern bei den beiden, wohin sie denn wollten. Sie erklären, sie hätten einen Einberufungsbefehl und seien auf dem Wege zur Sammelstelle des Volkssturms in Eitorf. Darauf fragen unsere Eltern die beiden vorwurfsvoll, ob sie noch ganz gescheit seien oder ob sie sich so kurz vor Toresschluß noch für den Adolf totschießen lassen wollten. Da die beiden Männer Angst vor der SS haben, die hinter der Front nach Deserteuren und Wehrdienstverweigerern sucht, laden unsere Eltern sie ein, vorerst bei uns im Stollen zu bleiben. Nach gutem Zureden zerreißen die beiden dann ihre Einberufungsbefehle in ganz kleine Stücke und lassen sie in den Felsspalten verschwinden. Nach zwei Tagen gehen die verhinderten Todeskandidaten ins Dorf zurück.
An einem anderen Morgen hören wir Rufe. Wir schauen den Schleifenweg hinunter und sehen dort eine Frau, einen Mann und einen Kinderwagen. Beim genauen Hinsehen erkennen wir Tante Liesel mit ihrem Baby, meiner Kusine Marlies. Ihr Begleiter ist Fritz Schäfer, ein treuer Freund der Familie Steinhauer, der bei Tante Liesels Hochzeit Brautführer war. Er hilft, den Kinderwagen, der mit verschiedenen Sachen schwer beladen ist, den Schleifenweg hinaufzuschieben. Tante Liesel berichtet von einem Gerücht, nach dem die Amerikaner zur Erleichterung ihres Vormarsches beabsichtigen, die rechtsrheinischen Städte und Dörfer mit Bomben in Schutt und Asche zu legen. Dem will sie entgehen und bleibt deshalb mit Marlies bei uns. Fritz Schäfer geht wieder zurück ins Dorf zu seinen Eltern.
Nachdem gut eine Woche vergangen ist, rückt eine Kompanie deutscher Soldaten an und will sich über unserem Stollen am Waldrand eingraben. Da unser Vater befürchtet, daß die Amerikaner dann von der anderen Rheinseite die Stellung über uns beschießen und wir einen Teil davon abbekommen werden, schlägt er dem die Kompanieführer vor, mit Rücksicht auf uns die Stellung weiter südlich in Richtung Heisterberg anzulegen. Der Offizier geht aber nicht auf den Vorschlag ein. Die Kompanie gräbt sich in dem Waldstück über uns mit zwei 2-cm-Kanonen und einem Maschinengewehr ein. Sie können von dort aus das Talgelände zwischen Königswinter und Niederdollendorf gut überblicken und unter Feuer nehmen.
Wie die Amerikaner Dollendorf erobern.
Gegen Abend des Tages, an dem die amerikanischen Truppen Königswinter erobern, erhebt sich ganz in unserer Nähe plötzlich ein fürchterliches Maschinengewehr- und Gewehrfeuer. Die Amerikaner, deren Aufklärung die deutsche Stellung über uns offensichtlich ausgemacht hat, haben sich vom Heisterberg aus herangeschlichen und eröffnen aus dem Wald heraus - also praktisch von hinten - das Feuer. Nach kurzer Gegenwehr springen die deutschen Soldaten aus ihren Schützenlöchern und rennen den Schleifenweg hinunter nach Oberdollendorf. Während wir im Stollen auf das baldige Ende der Schießerei hoffen, stürzt plötzlich der Kompanieführer herein. Er ist mit einer Maschinenpistole bewaffnet und leicht verwundet. Seine Anwesenheit ist gefährlich für uns. Vater gibt ihm vorsichtig zu verstehen, es sei besser, seine Waffe wegzuwerfen und sich zu ergeben. Er aber will weiterkämpfen und folgt seinen Kameraden, nachdem die Schießerei aufgehört hat und es dunkel geworden ist. Nun warten wir auf die Amerikaner. Aber sie kommen nicht; sie machen einen Tag Pause. Damit liegen wir im Niemandsland zwischen den Amis und den deutschen Truppen.
Am nächsten Tag nutze ich mit einigen anderen Kindern die Gelegenheit, die verlassene deutsche Stellung zu inspizieren. Dort liegt alles wild durcheinander. Die Kanonen stehen da, ohne zum Einsatz gekommen zu sein. Die Soldaten haben auch ihre Gewehre – meist minderwertige ausländische - zurückgelassen. Das einzige Deutsche Infanteriegewehr, das wir finden, verstecken wir in der Böschung des Schleifenbachs. Plötzlich hören wir fremde Stimmen. sehen aber niemand. Da funkt es bei mir: Ich schreie „Die Amis“, und wir machen uns aus dem Staub.
Inzwischen werden am Stolleneingang Vorbereitungen für die Ankunft der Amerikaner getroffen. An beiden Seiten rammen die Männer Stangen schräg in den Boden. An den Stangen werden die bekannten weißen Küchentücher mit den roten Karos befestigt. Für die Amis sollen sie weiße Fahnen darstellen, für eventuell noch auftauchende SS aber zum Trocknen aufgehängte Handtücher.
Am nächsten Vormittag - es ist Sonntag, der 18. März 1945 - ist es dann endlich soweit. Mit klopfendem Herzen treten wir aus dem Stollen heraus, um das Schauspiel zu beobachten. Zwischen den Bäumen tauchen amerikanische Soldaten auf; auch Schwarze sind dabei. Sie tragen große Stahlhelme, die ganz anders aussehen als die deutschen, und kauen unentwegt. In einer breiten Schützenkette rücken sie langsam und vorsichtig vor. Sie mustern uns mißtrauisch, kümmern sich aber nicht weiter um uns. Unser Vater versucht nun, den Führer des Stoßtrupps zu sich heranzuwinken, um ihn vor einem deutschen Maschinengewehrnest zu warnen, das sich unterhalb des Schleifenwegs vor dem Hause Limbach befindet. Der Offizier aber winkt seinerseits unseren Vater zu sich herüber. Dieser läuft dann tatsächlich zu dem Amerikaner hin und versucht, da er der englischen Sprache nicht mächtig ist, mit Händen und Füßen auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Unterdessen rückt die Spitze des Stoßtrupps auf dem Schleifenweg weiter talwärts vor. Und während unser Vater noch auf den Offizier einredet, rattert das Maschinengewehr bereits los und nimmt die Spitze des Stoßtrupps unter Feuer. Die Soldaten lassen sich sofort zu Boden fallen. Nur unser Vater - militärisch ungeübt - rennt zum Stolleneingang zurück. Gott sei Dank erwischt ihn keine Kugel. Die amerikanischen Soldaten nehmen nun das deutsche Maschinengewehrnest unter Feuer, und nach einiger Zeit verstummt es. Von oben sehen wir dann, wie die Amerikaner entlang der Bergstraße von Haus zu Haus vorrücken, und mich beeindruckt besonders, wie vorsichtig sie dabei – immer wieder Deckung suchend - zu Werke gehen.
Kurze Zeit später hören wir vom Rheintal her starken Lärm. Schnell klettern wir wieder nach oben und schauen vom Waldrand oberhalb des Weinbergs hinunter ins Tal; denn wir wollen nichts verpassen. Eine größere Anzahl amerikanischer Panzer rückt von Königswinter her beiderseits der Eisenbahntrasse gegen Niederdollendorf vor. Hinter ihnen folgen Soldaten zu Fuß. Die Luft ist erfüllt von dem Motorenlärm und dem Rasseln der Ketten der Panzer, dem Bellen der Panzerkanonen und Maschinengewehrsalven. Nach einem kurzen Feuergefecht mit deutscher Infanterie, die sich am südlichen Ortsrand eingegraben hat, stoßen die Panzer in den Ort hinein.
Ein ganz eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Da unten im Rheintal ist blutiger Krieg. Aber die Vogelperspektive erweckt in mir den Eindruck, ich säße im Kino und sähe die Kriegsberichterstattung der Deutschen Wochenschau. Etwas ist allerdings anders: Hier siegen die Amerikaner. Doch plötzlich werden wir aus der Rolle des bloßen Betrachters herausgerissen. Von deutscher Seite setzt Artilleriefeuer ein, um den Vormarsch der Amerikaner zu stören. Einige Einschläge sind ganz in der Nähe, und wir rennen, so schnell wir können, in den Stollen zurück.
Als wir dort wieder Platz nehmen, überkommt uns ein Gefühl großer Erleichterung. Obwohl noch nicht jede Gefahr vorüber ist, glauben wir, nun den Krieg und die Naziherrschaft und damit das Schlimmste heil überstanden zu haben.
Nach dem Einmarsch der Amerikaner
Am nächsten Tage - meinem Namenstag - kehren wir nach Hause zurück. Vater und Mutter verlassen mit Lothar bereits am frühen Morgen den Stollen. Mich begleitet am Mittag Liesbeth Limbach auf dem Weg ins Dorf. Unterwegs sehen wir einen gefallenen deutschen Soldaten. Er liegt im Vorgarten des Hauses Rösgen an der Bergstraße zwischen den ersten Frühlingsblumen - ein Anblick, den ich nie vergesse.
Zu Hause erlebe ich eine große Überraschung. Die Amerikaner haben unser Haus beschlagnahmt und dort eine Poststelle eingerichtet. Ein Teil unserer Schlafzimmermöbel, die wir vorsorglich vom Dach- ins Erdgeschoß schafften, stehen auf dem Bürgersteig. Sie waren den Amerikanern drinnen im Wege.
Beim Betreten unseres Hauses stellt mein Bruder Egon mich den Soldaten als seinen kleinen Bruder vor. Trotzdem unterzieht man mich einer Leibesvisitation, was ich angesichts meiner 11 Lebensjahre für übertrieben vorsichtig halte. Dann führt ein Soldat mich zu unserem Klavier und fordert mich auf, etwas darauf zu spielen. Brav packe ich meine Noten aus und klimpere den Soldaten etwas vor. Sie zeigen sich amüsiert und schenken mir als Belohnung eine kleine Tafel Schokolade. Als ich mich anschließend im Zimmer umsehe, entdecke ich in einer Ecke einen großen Haufen schmutziger Unterwäsche. Die Soldaten haben sich aus dem Wäschevorrat unseres Ladens bedient und die Unterwäsche gewechselt. ...
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